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Neuer WSI-Verteilungsbericht: Mittelschicht: Positive Entwicklung bis zur Corona-Krise – jetzt erleidet vor allem untere Mitte Einkommensverluste

10.11.2021

Die Mittelschicht in Deutschland ist trotz zunehmender Globalisierung in den Jahren vor der Corona-Krise wirtschaftlich nicht weiter unter Druck geraten. Im Gegenteil: Von 2014 bis 2018 sind Mittelschichts-Einkommen spürbar gewachsen. Diese Entwicklung ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass die über den Gini-Koeffizienten gemessene Einkommensungleichheit in Deutschland insgesamt zwischen 2016 und 2018 leicht zurückgegangen ist – auch wenn sie weiterhin größer ausfällt als Anfang der 2010er Jahre und erst recht stärker ist als noch in den 1990er Jahren. Die relative wirtschaftliche Stabilität hat sich auch positiv auf Mentalitäten von Mittelschichtsangehörigen ausgewirkt: Die Angst vor Arbeitslosigkeit hat sich in dieser Gruppe zwischen 2010 und 2019 auf noch 30 Prozent fast halbiert. Rückläufig waren auch Sorgen um die eigene finanzielle Situation – allerdings auf weitaus höherem Niveau, nur geringfügig abgenommen haben Sorgen um die eigene Altersversorgung. In den vergangenen Jahren haben sich Angst vor Arbeitslosigkeit und Angst vor finanzieller Unsicherheit somit deutlich auseinanderentwickelt. Das zeigt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Durch die Corona-Pandemie haben auch zahlreiche Erwerbstätigen-Haushalte der Mittelschicht Einkommensverluste erlitten, rund die Hälfte berichtet davon. Dabei zeigen sich aber merkliche Unterschiede: So haben von den Erwerbspersonen in der gesellschaftlichen Einkommensmitte und der oberen Mittelschicht (mit bedarfsgewichteten monatlichen Haushalts-Nettoeinkommen zwischen 2000 und 3500 Euro vor der Krise) bislang knapp 45 bis gut 47 Prozent an Einkommen eingebüßt. Das ist teilweise geringfügig weniger als bei Haushalten, deren Einkommen vor der Krise etwas oberhalb der Mittelschicht lagen. Das hat damit zu tun, dass Mittelschichts-Beschäftigte vergleichsweise oft in „Normalarbeitsverhältnissen“ tätig sind, die etwa durch Sozialversicherungen und Tarifverträge auch in der tiefen Krise abgesichert waren. In der höheren Einkommensschicht ab 3500 Euro finden sich hingegen mehr Selbständige, deren Geschäfte zum Teil stark unter der Pandemie litten. Mit Abstand am häufigsten von Einkommensverlusten betroffen waren indes Erwerbspersonen-Haushalte mit niedrigen Einkommen unter 1500 Euro netto, von denen gut 62 Prozent pandemiebedingt Einkommen verloren haben, gefolgt von der unteren Mittelschicht (1500 bis 2000 Euro), in der 54 Prozent betroffen sind. Zumindest für diesen Teil der Mittelschicht könnte sich die zuvor relativ gute Entwicklung also in den Corona-Jahren 2020 und 2021 umgekehrt haben – mit dem möglichen Resultat wieder zunehmender sozialer Ungleichheit.

„In den 2000er Jahren waren Abstieg und Schrumpfung der Mittelschicht ein häufiges Thema, auch in wissenschaftlichen Analysen. In den späteren 2010er Jahren hat sich ihre Situation entspannt, wie die Daten zeigen“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Das ist ein ermutigender Befund: Selbst in Zeiten internationaler Unsicherheiten und zunehmender Globalisierung schließen sich sinkende Arbeitslosenzahlen, verbesserte Arbeitsbedingungen und steigende Einkommen nicht aus. Allerdings macht die Feinanalyse auch deutlich, welche Bruchlinien durch unsere Gesellschaft laufen: Positive Einkommensentwicklung und stabile Perspektiven ergeben sich vor allem bei den Teilen der Mittelschicht, die in die bewährten Strukturen des deutschen Arbeitsmarktes integriert sind. Dazu zählen etwa sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Tarifverträge und Mitbestimmung. Die Situation in der unteren Mittelschicht ist hingegen deutlich prekärer, wie sich in der Corona-Krise wieder besonders klar zeigt. Reformen, die ‚normale‘ Beschäftigung stärken und den Wirkungskreis der sozialen Sicherung vergrößern, sind also auch im Interesse der Mittelschicht“, sagt Kohlrausch. „Die Tatsache, dass sich die Angst vor Arbeitslosigkeit und finanzielle Unsicherheit erheblich entkoppelt haben, zeigt zudem, dass Erwerbsarbeit auch für Angehörige der Mittelschicht keine langfristige Garantie für soziale Sicherheit darstellt. Dies verweist auf soziale Verunsicherung trotz steigender Löhne und sinkender Angst vor Arbeitslosigkeit.“

Das WSI empfiehlt daher, den Niedriglohnsektor zu verkleinern, etwa durch einen höheren Mindestlohn und eine Stärkung der Tarifbindung, sowie den Wirkungskreis der sozialen Sicherung auszuweiten. Zudem müsse der klimaverträgliche Umbau der Wirtschaft durch Investitionen so gestaltet werden, dass eine tragfähige Beschäftigungsbasis in Deutschland langfristig erhalten bleibe.

Daten aus zwei großen Panel-Befragungen

Im neuen Verteilungsbericht analysieren Dr. Aline Zucco und Anil Özerdogan vom WSI die Entwicklung von Einkommen und Abstiegsängsten anhand der aktuellsten vorliegenden Daten. Die Einkommenstrends während der Corona-Pandemie zeigen die Forscherin und der Forscher mit Hilfe von Daten aus der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung auf. Fast 3800 Erwerbstätige und Arbeitsuchende gaben dabei zwischen Frühjahr 2020 und Juli 2021 insgesamt viermal Auskunft über ihre Einkommenssituation. Die Online-Umfrage bildet die Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab. Die Entwicklung von Einkommensverteilung und Mentalitäten in den 2010er Jahren untersuchen die Forschenden anhand des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Diese repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung in rund 16.000 Haushalten liefert detaillierte Einkommensdaten für weite Teile der Bevölkerung. Allerdings sind sehr hohe Einkommen tendenziell untererfasst und die Einkommens-Datenreihe reicht aktuell lediglich bis 2018, während SOEP-Daten zu Sorgen um Arbeitsplatz oder eigene finanzielle Situation bis 2019 vorliegen.
 
Zur Mittelschicht zählen Zucco und Özerdogan, ähnlich wie andere Forschende, alle Haushalte, die ein Nettoäquivalenzeinkommen zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland haben. Über das bedarfsgewichtete Nettoäquivalenzeinkommen lassen sich Haushalte unterschiedlicher Größe vergleichen. In ihrer Analyse arbeiten Zucco und Özerdogan mit den in der Wissenschaft gebräuchlichsten statistischen Verteilungsmaßen. Der Gini-Koeffizient etwa kann Werte zwischen Null (alle Haushalte in Deutschland haben das gleiche Einkommen) und eins (das gesamte Einkommen im Land fließt an nur einen Haushalt) annehmen. Er ist besonders sensibel dafür, wie sich mittlere Einkommen im Vergleich zu hohen und niedrigen entwickeln. Zudem haben Zucco und Özerdogan beispielsweise ausgewertet, wie sich die Einkommen unterschiedlicher Haushalte entwickeln, wenn man sie, je nach Einkommenshöhe, in zehn gleich große Gruppen (Dezile) aufteilt.
 
Die 2010er Jahre: Haushalte mit hohen Einkommen haben größten Zuwachs, mittlere und niedrige holen vor allem gegen Ende auf
 
Im Vergleich der Industrieländer liegt die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland weiter auf einem mittleren Niveau, doch sind sie aktuell deutlich ungleicher verteilt als noch in den 1990er Jahren. Das liegt vor allem an einem kräftigen Anstieg der Ungleichheit rund um die Jahrtausendwende, als sich lediglich höhere Einkommen stark entwickelten, während mittlere und insbesondere niedrigere zurückblieben. Der Gini-Koeffizient stieg zwischen 1999 und 2005 von knapp 0,25 auf 0,289 – eine für diesen kurzen Zeitraum auch im internationalen Vergleich starke Zunahme. Darauf folgte eine kurze Phase, in der die Ungleichheit der Einkommen auf dem erhöhten Niveau stagnierte und dann etwas zurückging. Bis Mitte der 2010er Jahre kletterte der Gini-Wert mit einigen Schwankungen auf neue Höchstwerte: 2013 und 2016 erreichte er 0,295, das ist die größte seit Einführung des SOEP gemessene Einkommensungleichheit in Deutschland. Ab 2017 sank der Gini wieder etwas und lag im derzeit aktuellsten Jahr 2018 bei 0,290. „Das ist immer noch deutlich höher als zu Beginn des Jahrzehnts“, betont Verteilungsforscherin Zucco.

Dass die Ungleichheit gegenüber den Höchstständen 2013 und 2016 leicht zurückgegangen ist, lässt sich nach der WSI-Analyse wesentlich auf die solide Entwicklung der Einkommen in der Mittelschicht zurückführen. Das macht der Dezilvergleich deutlich: Nach einem spürbaren Rückgang zwischen 2010 und 2014 stiegen die Einkommen von Mittelschichtshaushalten real, also inflationsbereinigt, bis 2018 kontinuierlich an. Damit verkleinerten sie den Rückstand gegenüber den oberen Einkommensgruppen erheblich, allerdings ohne sie beim Zuwachs einzuholen. Unter dem Strich legten die realen Einkommen der Mittelschicht von 2010 bis 2018 um rund 7 Prozent zu, während es im obersten Zehntel gut 10 Prozent waren. Auch bei den unteren Einkommensgruppen (Dezil 1 und 2) kam es ab 2015, dem Jahr der Mindestlohneinführung, zu einer Trendwende von realen Einbußen hin zu spürbaren Zuwächsen, was den Gini-Wert ebenfalls etwas beeinflusste. Gleichwohl war die reale Entwicklung über den gesamten Zeitraum von 2010 bis 2018 hier am schwächsten: Die Einkommen in der „zweituntersten“ Gruppe (Dezil 2) wuchsen real um 5 Prozent, die Einkommen im ersten Dezil erreichten 2018 lediglich wieder das Niveau von 2010.

Relativ stabiles Sozialprofil der Mittelschicht

Im Einklang mit der Einkommensentwicklung erlebten viele Angehörige der Mittelschicht auch in anderer Hinsicht ein Jahrzehnt relativer Stabilität, zeigen Zucco und Özerdogan in ihrer vertieften Analyse der SOEP-Daten: Eine große Mehrheit von gut 75 Prozent der Personen, die 2010 mit ihrem Einkommen zur Mittelschicht zählten, taten das auch 2018 noch. Jeweils gut 12 Prozent stiegen in diesem Zeitraum wirtschaftlich auf oder ab. Dabei hatten Personen mit (Fach-)Abitur eine größere Chance auf wirtschaftlichen Aufstieg und Personen ohne Schulabschluss oder mit Hauptschulabschluss ein erhöhtes Risiko, abzusteigen. Im Zeitverlauf nahmen das durchschnittliche Bildungsniveau und der Erwerbstatus von Mittelschichtsangehörigen zu – allerdings nicht signifikant stärker oder schwächer als in der Gesamtbevölkerung.

Abstiegsängste bis 2019 gesunken, insbesondere Sorge um Altersversorgung bleibt aber auf hohem Niveau

Wachsende Einkommen und parallel sinkende Arbeitslosigkeit während der 2010er Jahre haben sich nach der WSI-Analyse auch positiv auf das Sicherheitsgefühl vieler Menschen in der Mittelschicht ausgewirkt. So sank der Anteil der Mittelschichtsangehörigen, die Angst vor Verlust ihres Arbeitsplatzes äußerten, zwischen 2010 und 2019 von 54 auf 30 Prozent. Auch die Sorge um die eigene finanzielle Zukunft nahm ab, wenn auch deutlich schwächer. So sank der Anteil der Befragten, die sich um ihre finanzielle Situation sorgten, von 72 Prozent auf 56 Prozent. Die erst seit 2015 gemessene Sorge um die Altersvorsorge ging bis 2019 nur um einen Prozentpunkt auf 63 Prozent zurück. „Das bedeutet, dass sich auch in der Mittelschicht trotz subjektiv empfundener Arbeitsplatzsicherheit viele Sorgen um ihre finanzielle Situation machen und somit in einem Job arbeiten, der ihnen keine sicheren finanziellen Perspektiven garantiert“, schreiben Zucco und Özerdogan. Besonders ausgeprägt ist die Differenz laut der WSI-Analyse bei Frauen, Mittelschichtsangehörigen ohne Hochschulausbildung und mit Migrationshintergrund; letztere sorgten sich zudem auch noch vergleichsweise häufig um ihre Arbeitsstelle.       

In der Corona-Krise leiden Haushalte mit Niedrigeinkommen besonders stark, auch untere Mittelschicht fällt zurück

Obwohl Deutschland im internationalen Vergleich bislang relativ glimpflich durch die Corona-Pandemie gekommen ist und die Bundesregierung viel getan hat, um Wirtschaft und Kaufkraft zu stabilisieren, deuten die aktuellen Daten aus der Erwerbspersonenbefragung, die die WSI-Forschenden ausgewertet haben, bei etlichen Haushalten auf spürbare negative Einkommenseffekte hin. In den Haushalten mit einem monatlichen Nettoäquivalenzeinkommen zwischen 2000 und 2500 Euro vor der Krise, das entspricht wesentlichen Teilen der „mittleren“ Mittelschicht, berichten knapp 45 Prozent der Befragten, pandemiebedingt zumindest zeitweise Einkommen eingebüßt zu haben. In der Einkommensgruppe zwischen 2500 und 3500 Euro, die Haushalte der mittleren und oberen Mittelschicht umfasst, sind es gut 47 Prozent, ebenso wie in der Gruppe ab 3500 Euro Vorkriseneinkommen. Den leichten Anstieg mit dem Einkommen erklären die ExpertInnen mit dem höheren Selbständigenanteil in oberen Einkommensschichten. Weitaus häufiger traf es aber Haushalte mit Einkommen unter 2000 und insbesondere unter 1500 Euro, das heißt, untere Mittelschicht und Niedrigeinkommensbeziehende, wo 54 beziehungsweise 62 Prozent Einkommen eingebüßt haben.

„Insgesamt deuten die Befunde also darauf hin, dass Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen die Krise aufgrund der funktionierenden Absicherungsmechanismen des deutschen Sozialversicherungssystems relativ gut überstanden“, schreiben Zucco und Özerdogan. Wirtschaftlich spürbar schlechter kamen diejenigen durch die Krise, die in dieses System nicht einbezogen sind: „Erwerbstätige, die vor der Krise nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, wie Selbstständige oder geringfügig Beschäftigte, konnten das Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld nicht in Anspruch nehmen und waren somit deutlich häufiger von (großen) Einkommenseinbußen betroffen“, analysieren die beiden. Auch Leiharbeitende sowie befristet Beschäftigte seien insbesondere zu Beginn der Krise überdurchschnittlich oft arbeitslos geworden. Und für etliche Beschäftigte im Niedriglohnbereich bedeutete Kurzarbeit zwar Joberhalt, sie riss aber besonders schmerzliche Lücken ins Haushaltsbudget.

Die ungleichen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise beeinflussen nach der WSI-Analyse auch deutlich das Ausmaß von Abstiegsängsten in unterschiedlichen Einkommensgruppen. Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation und die berufliche Zukunft sind bei einkommensschwächeren Haushalten am stärksten und bei einkommensstarken Haushalten am schwächsten ausgeprägt. Doch auch in der Mittelschicht sorgen sich gut die Hälfte der Befragten um die eigene finanzielle Situation und 40 Prozent um die eigene berufliche Zukunft. Natürlich erlauben die zugrunde liegenden unterschiedlichen Datensätze keinen unmittelbaren Vergleich zwischen den Abstiegsängsten und Zukunftssorgen vor und in der Pandemie. Ein Befund schält sich allerdings als stabil heraus: Die langfristige Sorge um die finanzielle Situation beunruhigt die Befragten mehr als eine unmittelbare Sorge um die eigene berufliche Zukunft.
   
Maßnahmen gegen Ungleichheit: Höherer Mindestlohn und mehr Tarifbindung, breitere Wirkung sozialer Sicherung, Investitionen in sozial-ökologische Transformation

Die WSI-ForscherInnen ziehen zwei zentrale Schlüsse aus ihrer Analyse für die vergangene Dekade: Erstens ist eine starke Mittelschicht auch in Zeiten von Globalisierung und zunehmender Digitalisierung möglich, doch bietet eine aktuell gute Arbeitsmarktlage keine Garantie für die Zukunft. Und zweitens offenbarte die Corona-Krise an vielen Stellen Stärken, aber auch Lücken des deutschen Sozialversicherungssystems. Diese beträfen im Wesentlichen all diejenigen, die nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, schreiben Zucco und Özerdogan. Für die kommenden Jahre gelte es daher, „einerseits die guten Arbeitsmarktbedingungen der letzten Jahre in Zeiten der sozial-ökologischen Transformation zu erhalten und andererseits das Sozialversicherungssystem langfristig so umzugestalten, dass im Krisenfall alle darauf zurückgreifen können.“ Daraus leiten sie konkrete Vorschläge ab:

  • Bessere tarifliche Absicherung und mehr Mitbestimmung: Dass sich die Situation der Mittelschicht in den Jahren vor der Pandemie verbessert habe, sei nicht zuletzt der Erfolg betrieblicher und gewerkschaftlicher Mitbestimmung. Beschäftigte in der Mittelschicht werden deutlich häufiger nach Tarif bezahlt als Beschäftigte im Niedriglohnsektor, und sie arbeiten häufiger in Betrieben mit Betriebs- oder Personalrat – zwei wichtige Faktoren für die positivere Entwicklung in der Mitte gegenüber dem unteren Bereich der Einkommensentwicklung, analysieren Zucco und Özerdogan. Dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Mittelschicht in weltwirtschaftlich auch schwierigen Zeiten solche Sicherheiten erfahren haben, trug auch zu dem deutlichen Absinken der Abstiegsängste bei. Das zeige, wie notwendig Tarifverträge und Mitbestimmung sind, um auch langfristig ein ausreichendes Einkommen, Arbeitsplätze und gesellschaftliche Stabilität zu sichern.
  • Verringerung des Niedriglohnsektors durch Anhebung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung: Nicht minder wichtig sei es, auch Einkommen am unteren Ende der Verteilung zu sichern. Hierfür müsse einerseits der Niedriglohnbereich durch eine Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro abgebaut werden. Andererseits könnten über eine Stärkung der Tarifbindung auch bislang Geringverdienende wieder stärker erreicht werden. Deswegen sollten hierfür das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung erleichtert und Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen gestärkt werden.
  • Soziale Absicherung für Selbstständige verbessern: Die Corona-Krise zeige deutlich, dass insbesondere Selbstständige schlecht gegen Arbeitslosigkeit abgesichert sind. Vor diesem Hintergrund empfehlen die WSI-Forschenden, die Arbeitslosenversicherung auch für Selbstständige zu öffnen. Langfristig sollten Selbstständige – wie abhängig Beschäftigte auch – obligatorisch über die Arbeitslosenversicherung abgesichert sein.
  • Anreize für die geringfüge Beschäftigung reduzieren und die sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit von Frauen fördern: Insbesondere geringfügig Beschäftigte haben im Verlauf der Krise ihren Job verloren, weil Minijobs mangels Beitragszahlung beispielsweise nicht über Kurzarbeit abgesichert werden konnten. In diesem Kontext sollte nach Analyse des WSI  auch darüber diskutiert werden, dass das Ehegattensplitting zusammen mit der kostenlosen Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Arbeitsuchende Fehlanreize setzt, in Minijobs statt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu gehen.
  • Eine aktive Industriepolitik, um Arbeitsplätze langfristig zu erhalten: Die Corona-Krise habe die Probleme eines global agierenden Marktes mit internationalen Lieferketten offenbart. Es sei daher davon auszugehen, dass es im Nachgang der Krise zu einer partiellen De-Globalisierung kommen könnte, während die Herausforderungen der Bekämpfung des Klimawandels gleichzeitig ansteigen werden, schreiben die Forschenden. In dieser Situation bedürfe es insbesondere für die Industriepolitik neuer Wege, um Arbeitsplätze in diesem Sektor langfristig zu erhalten. Dazu zählen Zucco und Özerdogan einerseits die staatliche Bereitstellung von Infrastruktur und andererseits eine Politik, die Anreize für Innovationen in den Unternehmen setzt.

Weitere Informationen:

Aline Zucco, Anil Özerdogan: Verteilungsbericht 2021. Die Einkommenssituation und Abstiegsängste der Mittelschicht. WSI Report Nr. 69, November 2021.

Die Pressemitteilung mit Abbildungen (pdf)

Kontakt:

Prof. Dr. Bettina Kohlrausch
Wissenschaftliche Direktorin WSI

Dr. Aline Zucco
WSI-Expertin für Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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