Neue Analyse des IMK: Sozialstaat: Ausgabenquote für Rente und Arbeitslose niedriger als früher – Reform auf Gesundheitssystem konzentrieren
08.10.2025
Die Sozialstaatsdebatte in Deutschland hat sich stark zugespitzt, wesentlich angetrieben durch Äußerungen von Bundeskanzler Friedrich Merz. Ein systematischer Blick in die aktuellsten Statistiken zum Sozialstaat zeigt allerdings: Die Gesamtausgaben für soziale Sicherung sind in Deutschland nicht auffällig groß und nicht auffällig gestiegen. Gemessen an der gesamtwirtschaftlich relevanten Größe, der Wirtschaftsleistung, sind die Ausgaben in zentralen Bereichen wie Grundsicherung, Rente und Arbeitslosenversicherung sogar unverändert bzw. niedriger als vor 15 oder vor 20 Jahren, zeigt eine neue Auswertung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
Einen Anstieg der Ausgabenquoten in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) gab es hingegen bei den Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe sowie bei der Pflegeversicherung. Dabei spielen allerdings auch sehr sinnvolle politische Entscheidungen eine Rolle. Dazu zählen der starke Ausbau der Kinderbetreuung, der unter anderem die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit verbessert hat, und besser vergütete sowie präventionsorientierte Pflegeleistungen, etwa bei Demenz. Wirklich problematisch ist nach Analyse des IMK die Kostenentwicklung lediglich in einem Bereich: dem Gesundheitssystem. Neben erfolgversprechenden Reformansätzen kursierten auch dort allerdings Ideen, die eher kontraproduktiv wirken könnten, warnen Prof. Dr. Sebastian Dullien und Dr. Katja Rietzler, die Autor*innen der Kurzstudie.
„Den Staat und auch die soziale Sicherung effizienter und gerechter machen zu wollen, ist absolut legitim und angebracht. Die aktuelle Sozialstaatsdebatte krankt aber oft an einem Fokus auf Schein- oder sekundären Problemen. Das könnte wirklich notwendige Reformen be- und sogar verhindern, und es verstellt den Blick darauf, dass die soziale Sicherung ein wichtiger Faktor für Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Stabilität ist. Wir brauchen mehr realistische Analyse, weniger Alarmismus“, sagt Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des IMK.
Anfang 2024 haben Dullien und IMK-Fiskalexpertin Rietzler in einer Kurzstudie gezeigt, dass die Ausgaben für den Sozialstaat in Deutschland im internationalen Vergleich nicht übermäßig hoch lagen. Deutschland reihte sich bei der Quote staatlicher Sozialausgaben im Mittelfeld der entwickelten EU-Staaten ein zwischen Spanien und Dänemark. Der Ausgabenzuwachs zwischen 2002 und 2022 war sogar der drittniedrigste unter 27 OECD-Staaten, für die Daten verfügbar waren. Berücksichtigt man sowohl die gesetzliche Krankenversicherung als auch verpflichtende private Krankenversicherungen, wie es sie in einigen Ländern gibt, lag die deutsche Sozialausgabenquote nahe derjenigen der Schweiz und der USA.
Inzwischen sind Daten vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) veröffentlicht worden, die für 2024 einen Anstieg der deutschen Sozialleistungsquote aufzeigen. Die Abgrenzung des BMAS ist nicht vollständig mit jener der OECD zu vergleichen, auch liegen für viele andere Länder noch keine Daten für 2024 vor. „Allerdings lässt sich schon vorab anhand der bisher vorliegenden Daten sagen: Der jüngste Anstieg war nicht so kräftig, dass Deutschland damit das Mittelfeld der europäischen Länder verlassen hätte“, betonen die IMK-Expert*innen. Nach der Revision der Daten zum Bruttoinlandsprodukt durch das Statistische Bundesamt im August 2025 lag die Sozialleistungsquote nach nationaler Messung 2024 bei 31,0 Prozent, 1,1 Prozentpunkte höher als im Vorjahr, aber immer noch spürbar unter den Ständen von 2020 und 2021 (siehe auch Abbildung 1 in der Kurzstudie; Link unten).
Anstieg der Sozialleistungsquote beruht auf Rezession, nicht auf stärkerer Entwicklung der Ausgaben
Hinzu kommt nach der IMK-Analyse: Der Sozialstaat hat seit 2022 in erster Linie ein Problem unzureichenden Wirtschaftswachstums, nicht übermäßiger Ausgabensteigerungen. Denn die Wirtschaftsleistung ist sowohl 2023 als auch 2024 im Jahresdurchschnitt geschrumpft. Selbst konstante Sozialleistungen würden in einer solchen Situation rechnerisch zu einem Anstieg der Sozialleistungsquote führen, weil der Nenner der Quote schrumpft. Generell sind die inflationsbereinigten Sozialausgaben in Deutschland von 2009 bis 2019 ziemlich genau mit dem Trend des Bruttoinlandsprodukts gewachsen. 2020 führte die Covid-Pandemie zu einem Anstieg der Sozialausgaben über den Trend, was sich aber schnell korrigierte. Seit 2022 liegen die Sozialausgaben laut IMK sogar unter dem ursprünglichen BIP-Trend. Allerdings ist das Bruttoinlandsprodukt selber noch weiter hinter dem Trend zurückgeblieben, sodass sich die Sozialleistungsquote erhöht hat (siehe auch Abbildung 2 in der Analyse).
Das IMK betrachtet auch die Details der Sozialleistungsquote. Dabei zeigt sich, dass die Entwicklung in den verschiedenen Bereichen der sozialen Sicherung unterschiedlich ausfiel. So waren die Ausgaben für die Rentenversicherung, inklusive Bundeszuschüsse, relativ zum BIP in den vergangenen 20 Jahren sogar spürbar rückläufig – von 10,4 Prozent des BIP 2004 auf zuletzt 9,4 Prozent (siehe auch Abbildung 3 in der Kurzstudie).
Ebenfalls rückläufig waren im 20-Jahresvergleich die Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung (von 2,3 auf 0,9 Prozent des BIP), wobei hier zu beachten ist, dass mit den Hartz-Reformen 2005 ein Teil der Kosten der Arbeitslosenversicherung in die Grundsicherung bzw. das Bürgergeld verschoben wurde. Betrachtet man die Ausgaben von Arbeitslosenversicherung, Bürgergeld und Sozialhilfe zusammen, so sind die Ausgaben dieser Kategorien insgesamt relativ zum BIP seit 2004 unverändert geblieben. Im Vergleich mit 2010 sind die Ausgaben für Bürgergeld, Eingliederungshilfen und Sozialhilfe – die in der Bürgergelddebatte derzeit Stein des Anstoßes sind – relativ zum Bruttoinlandsprodukt sogar leicht zurückgegangen, von 2,8 auf 2,7 Prozent. „Das ist umso bemerkenswerter, als dass mit der Flüchtlingsaufnahme um das Jahr 2015 und nach der russischen Invasion in die Ukraine 2022 mehrere Millionen Menschen nach Deutschland gekommen sind, die Bürgergeld erhalten bzw. erhielten“, schreiben Dullien und Rietzler.
Mehr Geld für Kinderbetreuung oder professionelle Pflege unterstützt Erwerbsbeteiligung und Wachstum
Einen deutlichen Anstieg gab es dagegen bei den Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe (seit 2004 von 0,8 auf 1,7 Prozent des BIP) sowie bei den Ausgaben der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung. Unter die Kinder- und Jugendhilfe fallen nach SGB VIII auch die Kosten für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Der Ausbau der Kinderbetreuung war ein wichtiges politisches Projekt, das Eltern eine höhere Erwerbsbeteiligung ermöglicht und deshalb sogar als förderlich für das Wirtschaftswachstum angesehen werden muss.
Bei der Pflegeversicherung spiegelt die Ausgabenentwicklung (Anstieg seit 2004 von 0,8 auf 1,5 Prozent des BIP) zum einen eine Ausweitung der Leistungen (u.a. bei Demenz), eine steigende Fallzahl auch als Folge der demografischen Entwicklung sowie eine dringend notwendige Verbesserung der (qualitativen) personellen Ausstattung von Pflegeeinrichtungen ab. „Jede Diskussion um ein angemessenes Niveau der Leistungen der Pflegeversicherung sollte dabei mit beachten, dass diese zum Teil Angehörigen erst die Erwerbsbeteiligung ermöglicht“, geben die Forschenden zu bedenken. Kürzungen würden „nur zu einer Verschiebung der Kosten vom Versicherungssystem auf die einzelnen Haushalte“ führen, „nicht eine gesamtwirtschaftliche Senkung der Pflegekosten bedeuten“.
Bei den Ausgaben für die Gesundheitsversorgung fällt nach der IMK-Analyse beim Blick auf Zahlen der OECD für 2024 auf, dass Deutschland hier tatsächlich im internationalen Vergleich sehr weit vorne liegt. Alleine die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sind zwischen 2004 und 2024 von 6,0 auf 7,5 Prozent des BIP gestiegen, hinzu kommen unter anderem die Ausgaben der privaten Krankenversicherungen, der Beihilfe und die Zuzahlungen der privaten Haushalte. Hohe Ausgaben für Gesundheit wären dabei kein Problem, wenn im Gegenzug eine besonders gute Entwicklung bei der Lebenserwartung oder bei der Gesundheit der Bevölkerung zu beobachten wäre. Beides ist nicht der Fall, sodass nach Einschätzung von Dullien und Rietzler im Gesundheitssystem der problematische „Befund hoher Kosten bei mittelmäßiger Gesundheit der Bevölkerung“ angebracht sei.
Vielversprechend erschienen daher Reformvorschläge, die das Gesundheitssystem effizienter machen in dem Sinne, dass sie die Qualität von medizinischen Leistungen verbessern oder Doppeluntersuchungen vermeiden. Eine konsequente Digitalisierung sei ebenfalls wichtig. Auf der reinen Kostenseite fällt laut IMK im OECD-Vergleich auf, dass in Deutschland Kosten für Medikamente anfallen, die pro Kopf fast 1,5-mal so hoch sind wie im europäischen Durchschnitt. Inwieweit die besonders hohen Ausgaben für nicht-stationär verabreichte Medikamente in Deutschland auf besonders hohe Preise für Pharmazeutika, auf im Vergleich häufige Verschreibungen oder strukturelle Unterschiede zwischen den Aufgaben von Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzt*innen zurückgehen, lasse sich der OECD-Statistik allerdings nicht entnehmen.
Ebenfalls auffällig ist nach der Analyse, dass, ebenfalls laut OECD, im EU-Vergleich die Ärzt*innen in Deutschland relativ zu den jeweiligen Durchschnittseinkommen im Land besonders gut vergütet werden, während das Pflegepersonal in Krankenhäusern bei der relativen Bezahlung im europäischen Durchschnitt liegt. Allerdings sind beim Einkommen von Mediziner*innen Unterschiede etwa bei der Altersversorgung, der Berücksichtigung von privat abgerechneten Leistungen oder Kosten für Praxisübernahmen nicht mitberücksichtigt, was einen direkten Vergleich erschwert.
Fazit der Forschenden: Wenn es Reformbedarf in den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland gebe, dann betreffe dieser am ehesten die Krankenversicherung. Mit einem einfachen Ruf nach mehr „Eigenverantwortung“ von Patient*innen sei es hier aber nicht getan. So bewerten Dullien und Rietzler unter diesem Motto vorgebrachte Vorschläge wie etwa Gebühren für Arztbesuche als nicht besonders sinnvoll. Sie brächten die Gefahr mit sich, dass insbesondere Menschen mit geringen Einkommen trotz medizinischer Notwendigkeit nicht oder verspätet ärztliche Hilfe suchen, was die Krankheitskosten am Ende sogar erhöhen könne. Auch die Idee von Karenztagen bei der Lohnfortzahlung berge relevante Risiken, weil möglicherweise kranke Menschen trotzdem zur Arbeit gehen und Kolleg*innen oder Kund*innen infizieren könnten.
Kontakt
Prof. Dr. Sebastian Dullien
Wissenschaftlicher Direktor IMK
Dr. Katja Rietzler
IMK-Expertin für Fiskalpolitik
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Weitere Informationen
Sebastian Dullien, Katja Rietzler: Sozialstaatsdebatte krankt an mangelnder Analyse und Fokus auf Scheinprobleme. IMK Kommentar Nr. 16, Oktober 2025.
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