Systemrelevant Podcast: Der Sozialstaat im Visier: Falsche Fakten für falsche Debatten
Der Sozialstaat steht mal wieder in der Kritik: zu teuer, zu groß, zu bequem. Doch stimmen diese Vorwürfe? IMK-Direktor Sebastian Dullien erklärt, wo die Kosten wirklich steigen und warum klare Fakten wichtiger sind als Schlagzeilen.
[29.10.2025]
„Der Sozialstaat ist zu groß, alle betrügen“ – solche Schlagzeilen prägen die aktuelle Debatte. Doch wie berechtigt ist die Kritik?
Deutschland gibt rund 30 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für soziale Leistungen aus – und liegt damit im europäischen Mittelfeld, nicht an der Spitze, so Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Wer also von „ausufernden Sozialausgaben“ spreche, solle genauer hinsehen: Deutschland liege zwischen Spanien und Dänemark – und hinter Frankreich und Österreich, stellt Dullien klar.
Doch was gehört überhaupt zum Sozialstaat? Neben Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zählen auch Sozialhilfe, Bürgergeld und Familienleistungen wie Kindergeld und Kinderbetreuung dazu. Trotzdem sei die Wahrnehmung oft verzerrt, so Dullien. Viele kritisierten Leistungen, die sie selbst nicht in Anspruch nehmen. Der IMK-Direktor betont: "Der Sozialstaat umfasst sehr viel. Deshalb gibt es auch kaum Menschen, die nicht in irgendeiner Form mit ihm in Berührung kommen. Jede*r nutzt seine Leistungen – beispielsweise beim Arztbesuch oder beim Empfang von Kindergeld.”
Wenn Menschen über „explodierende Kosten“ sprächen, werde zudem oft vergessen, dass steigende Milliardenbeträge häufig schlicht auch die Folge von Inflation und Bevölkerungswachstum seien, so Dullien. Besonders hitzig werde über das Bürgergeld gestritten – meist ohne Blick auf die Zahlen. Dabei zeigt Dullien: „2024 lagen die Ausgaben für Bürgergeld, Sozialhilfe und Eingliederungshilfe bei 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – 2010 waren es 2,8 Prozent.“  Tatsächlich stiegen die Ausgaben vor allem in Bereichen, die gesellschaftlich besonders relevant seien: Kinder- und Jugendhilfe, Pflegeversicherung und Krankenversicherung.
Bei der Kinder- und Jugendhilfe hätten sich die Ausgaben mehr als verdoppelt – von 0,8 Prozent des BIP im Jahr 2004 auf 1,7 Prozent heute. Wenn man in die Zahlen reinschaut, dann stelle man fest, da u.a. der ist der Ausbau der Kinderbetreuung drinsteckt, so Dullien. 
Bei der Pflegeversicherung sehe Dullien hingegen eine größere Herausforderung: Mehr ältere, pflegebedürftige Menschen führten zu höheren Kosten. „Wenn man dieser Versicherung jetzt irgendwie Leistungen kürze oder die Selbstbehalte erhöhe oder das Vermögen der Pflegebedürftigen stärker heranziehe, bevor sie da die Leistung rauskriegen, dann sei dies auch nicht mehr so ganz eine Versicherung, sondern einfach eher eine Sozialleistung“, so der IMK-Direktor.
Auch im Gesundheitssystem gebe es Nachholbedarf. Die Ausgaben seien seit 2004 von 6 auf 7,5 Prozent des BIP gestiegen – ohne dass die Ergebnisse besser geworden seien. „Wir zahlen hier für einen Porsche und bekommen oft nur einen VW Passat“, sagt Dullien zugespitzt. Vor allem Medikamente seien teuer – die Kosten in Deutschland lägen etwa anderthalbmal so hoch wie im europäischen Durchschnitt, berichtet Dullien auf Basis von OECD-Zahlen. Ursachen dafür sehe er in ineffizienten Strukturen, fehlender Digitalisierung und hohen Arztvergütungen.
Wer weitere wichtige Grundlagen zum Sozialstaat wissen möchte, sollte sich diese Folge anhören. Sebastian Dulliens Appell fällt klar aus: „Wie in so vielen Debatten gilt: kühlen Kopf behalten, auf die Zahlen schauen und sich nicht von steigenden nominalen Milliardenwerten verunsichern lassen.“
Moderation: Marco Herack
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In Systemrelevant analysieren führende Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit Moderator Marco Herack, was Politik und Wirtschaft bewegt: makroökonomische Zusammenhänge, ökologische und soziale Herausforderungen und die Bedingungen einer gerechten und mitbestimmten Arbeitswelt – klar verständlich und immer am Puls der politischen Debatten.
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