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Neue Analyse des IMK: Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2024: Staat muss verlorenen Spielraum zurückgewinnen

08.01.2024

Die deutsche Wirtschaft dürfte 2024 das zweite Jahr in Folge eine leichte Rezession durchlaufen: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird in diesem Jahr um 0,3 Prozent schrumpfen, so wie schon 2023. Ende 2024 könnte das BIP so wieder auf dem Niveau von 2019 landen, unmittelbar bevor die Corona-Pandemie ausbrach. Deutschland „hätte damit wirtschaftlich ein verlorenes halbes Jahrzehnt erlebt“ und wichtige Zeit verloren, um Wohlstand und Arbeitsplätze auf dem Weg in eine klimaverträgliche Zukunft zu erhalten, ergibt die neue wirtschaftspolitische Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zum Jahresauftakt. Um das zu verhindern, müsse die Wirtschaftspolitik dringend notwendige Spielräume für Investitionen wiedergewinnen, die sie durch das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom November und die politischen Reaktionen darauf verloren hat. Als beste Lösung für das Problem empfiehlt das IMK eine „Golden Rule“, um künftig Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen. Als zweitbeste Lösung ein kreditfinanziertes Sondervermögen für Transformationsinvestitionen nach dem Vorbild des Sondervermögens Bundeswehr.

Die deutsche Wirtschaftspolitik stehe aktuell vor zwei großen Herausforderungen, umreißen die Ökonom*innen die Lage:

Erstens müsse verhindert werden, dass sich die Stagnationstendenzen der deutschen Wirtschaft 2024 fortsetzen und verhärten. So bestehe zum einen das Risiko, dass die privaten Haushalte und Unternehmen wie in den frühen 2000er Jahren in eine „Stagnationserwartung“ verfallen. Diese könne auf längere Zeit die Wirtschaftsdynamik lähmen, etwa weil private Haushalte Käufe und Unternehmen Investitionen aufschieben. Zum anderen könnte der Arbeitsmarkt, der sich über längere Zeit trotz heftiger äußerer Schocks stabil gezeigt hat, „kippen“ und die Arbeitslosigkeit deutlich steigen. Zumindest Vorboten dieser Entwicklung hat das IMK in seiner aktuellen Konjunkturprognose** bereits ausgemacht: Das Institut rechnet für 2024 mit 2,85 Millionen Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt. Das sind rund 430.000 mehr als noch 2022, die Arbeitslosenquote dürfte in diesem Zeitraum von zwei Jahren von 5,3 auf 6,2 Prozent steigen.    

Zweitens müsse die Wirtschaftspolitik mittelfristig einen Rahmen schaffen und der Staat auch eigene Maßnahmen ergreifen, „so dass die anstehende Dekarbonisierung unter Erhalt des deutschen Wohlstands sozial abgefedert und politisch akzeptiert gelingen kann“, schreiben die Forschenden in ihrem Jahresausblick. Der größte Anteil, der für eine sozial-ökologische Transformation und Klimaneutralität bis 2045 notwendigen Investitionen müsse natürlich von Privaten geleistet werden, worunter sowohl Unternehmen fallen als auch private Haushalte. In der aktuellen Situation seien öffentliche Investitionen aber besonders wichtig als „Türöffner“ und teilweise Voraussetzung für private Ausgaben – sei es, weil diese von öffentlichen Infrastrukturen abhängen, sei es, weil Private den Einstieg in neue Techniken als Vorreiter nicht alleine stemmen können.

Neben der Modernisierung und Ertüchtigung traditioneller Infrastruktur, etwa bei Schienen, Fernstraßen, Wasserwegen, und bei Bildungseinrichtungen, sieht das IMK staatlichen Regulierungs-, Investitions- und Unterstützungsbedarf vorrangig an drei Punkten:

- Den forcierten Ausbau von Windenergie, Photovoltaik und Speichertechnologien für Erneuerbare Energien als klimafreundliche, verlässliche und längerfristig auch vergleichsweise günstige Stromquellen.

- Investitionen der Wirtschaft, und insbesondere der Industrie, in neue Techniken, die besonders CO2-arme Produktion ermöglichen, aber bislang noch deutlich teurer sind als die gängigen Prozesse. Dazu zählt etwa die Direktreduktion in der Stahlindustrie, die das bisherige Verfahren mit Kokskohle ersetzt. Die Herausforderung für Unternehmen sei umso größer, weil der bis zum russischen Überfall auf die Ukraine „plausible Pfad“, dabei Erdgas als „Brückentechnologie“ zu nutzen, abgeschnitten sei. Und während die Preise für Gas und Strom in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hoch sind, setzen Wettbewerber wie die USA und China viele Milliarden für Subventionen ein.   

- Unterstützung für private Haushalte bei der Wärme- und der Mobilitätswende, beispielsweise bei der Anschaffung einer neuen Heizung. Die werde umso wichtiger „angesichts der sich nun zunehmend klarer abzeichnenden Risiken einer Strategie, die bei der Dekarbonisierung auf steigende CO2-Preise ohne ausreichende Flankierung mit unterstützenden Maßnahmen setzt“, schreiben die Forschenden. Ab 2027 dürfte der CO2-Preis stark anziehen, weil nach dem EU-Modell zum Emissionshandel dann von einer politisch gesetzten, bislang relativ moderaten, CO2-Steuer auf einen Marktpreis umgestellt wird. Das wird viele Privathaushalte mit Gas- und Ölheizungen finanziell stark belasten, hat eine IMK-Studie vom Dezember gezeigt. Und selbst wenn die gesamten Einnahmen aus dem CO2-Preis über ein Klimageld als Pauschale zurückgegeben würden, bekämen 44 Prozent aller deutschen Haushalte nur ein Klimageld, das nicht ausreicht, um ihre Zusatzbelastung zu kompensieren. Darunter sind knapp 4,7 Millionen Haushalte besonders stark betroffen: Selbst unter Einrechnung des Klimageldes müssten sie noch mehr als zwei Prozent ihres Nettoeinkommens aufwenden, um den steigenden CO2-Preis zu bezahlen. Neben Unterstützungen bei der Wärmewende wie den forcierten Ausbau von Fernwärmenetzen sei es wichtig, den ÖPNV ausbauen und zu ertüchtigen, um Menschen die Möglichkeit zu geben, vom Auto auf Alternativen umzusteigen.

Für die Modernisierung und den Ausbau der traditionellen Infrastruktur und des Bildungsbereiches hatte das IMK gemeinsam mit dem Institut der deutschen Wirtschaft bereits 2019 einen zusätzlichen Investitionsbedarf von rund 460 Milliarden Euro über zehn Jahre errechnet. Dieser Bedarf besteht nach Einschätzung von Prof. Dr. Sebastian Dullien, dem wissenschaftlichen Direktor des IMK, dabei weitgehend fort, weil in den vergangenen Jahren nur wenige der damals aufgezeigten Lücken geschlossen worden seien.

„2024 sollte das Jahr sein, in dem wir aus der akuten Krise herauskommen. In dem wir die Folgen der Pandemie endgültig hinter uns lassen. Und in dem wir die Lehren aus dem russischen Angriff auf die Ukraine und aus der Energiekrise in die Tat umsetzen, indem wir die sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft forcieren“, sagt Dullien. „Stattdessen droht aktuell ein Ausfall der wirtschaftspolitischen Handlungsfähigkeit. Die Ampel- und zuvor die Große Koalition haben seit 2020 sowohl den Corona- als auch den Energiepreisschock erfolgreich abgefedert. Aber mit dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der finanzpolitischen Reaktion darauf, droht die Wirtschaftspolitik jetzt selbst zu einer Belastung für die Wirtschaft zu werden.“    

„Die Herausforderungen der Transformation anzugehen, ist kein Partikularinteresse einzelner Parteien“

Das Urteil des Verfassungsgerichts habe zwar vordergründig die umstrittenen Haushaltskonstruktionen der Bundesregierung über umgewidmete Kreditermächtigungen und Sondervermögen wie den Klima- und Transformationsfonds zu Fall gebracht. Es sei aber zu simpel, an diesem Punkt der Analyse stehen zu bleiben, warnt das IMK. „Das Urteil offenbart in Wirklichkeit die eklatanten Schwächen einer Schuldenbremse, die nicht mehr in unsere Zeit passt“, erklärt Ökonom Dullien. Die transformativen Herausforderungen entschlossen anzugehen, sei schließlich kein Partikularinteresse einzelner Koalitionen oder Parteien, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit. „Der Strukturwandel läuft bereits. Er kann unseren Wohlstand stärken, wenn wir ihn gut gestalten Er kann unseren Wohlstand in Gefahr bringen, wenn wir ihn nicht angemessen und ausreichend flankieren. Ersteres kostet jetzt Geld für Investitionen. Letzteres wird die Staatsfinanzen der Zukunft bedrohen. Es wäre absolut widersinnig, wenn ausgerechnet Deutschland, das die niedrigste Staatsverschuldung unter den G7-Ländern hat, nicht genug tut.“

Gleiches gelte für die eklatanten Mängel an der bestehenden öffentlichen Infrastruktur in Deutschland etwa im Verkehrs- oder Bildungsbereich. „Auch bei der traditionellen Infrastruktur verhindert die Schuldenbremse nun eine dringend notwendige, entschiedene Investitionswende“, so Dullien.         

Als beste Lösung sieht das IMK eine Reform der Schuldenbremse durch eine „Golden Rule“ für Investitionen. Diese würden dann aus den Begrenzungen ausgenommen. Das sei ökonomisch und ethisch sehr gut zu begründen. Schließlich kommen die notwendigen Investitionen nicht nur heutigen Generationen zugute, sondern insbesondere auch künftigen.

„Eine `Golden Rule´ würde eine Verstetigung öffentlicher Investitionen ermöglichen und gleichzeitig eine Überschuldung vermeiden. Die Wirtschaftspolitik sollte sich zeitnah für eine solche Reform einsetzen“, appellieren die Forschenden parteiübergreifend. Doch: „Leider scheinen die politischen Mehrheiten absehbar für eine derartige First-Best-Reform nicht gegeben.“ Eine Second-Best-Lösung wäre für das IMK daher „ein im Grundgesetz verankertes kreditfinanziertes Sondervermögen für die Transformation nach dem Vorbild des Sondervermögens `Bundeswehr´“.

Allerdings wäre auch für diese Lösung eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Für den Übergang sei es deshalb völlig gerechtfertigt, wenn der Bundestag erneut für 2024 eine Notsituation erklären würde, um eine Kreditaufnahme jenseits der für Normalzeiten festgelegten 0,35 Prozent des BIP zu ermöglichen. „Der Energiepreisschock nach der russischen Ukraine-Invasion wirkt nach. Inzwischen liegt die Wirtschaftsleistung fast 5 Prozent niedriger, als es allgemein unmittelbar vor der Invasion erwartet worden war. Natürlich ist das weiter eine wirtschaftliche Notsituation“, so Dullien.

Weitere Informationen:

Sebastian Dullien, Tom Bauermann, Lukas Endres, Alexander Herzog-Stein, Katja Rietzler, Silke Tober: Schuldenbremse reformieren, Transformation beschleunigen. Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2024. IMK Report 187, Januar 2024.

Sebastian Dullien, Alexander Herzog-Stein, Peter Hohlfeld, Katja Rietzler, Sabine Stephan, Thomas Theobald, Silke Tober, Sebastian Watzka: Wirtschaftspolitik und Unsicherheit lähmen deutsche Wirtschaft. Die konjunkturelle Lage in Deutschland zur Jahreswende 2023/2024. IMK Report Nr. 186, Dezember 2023.

Audiokommentar von IMK-Direktor Sebastian Dullien zu den wirtschaftspolitischen Herausforderungen 2024

Von Arbeitsmarkt bis Zinsen, von der Konjunktur in China bis zum EU-Mercosur-Abkommen: Wichtige Wirtschaftsthemen 2024 auf den Punkt gebracht: So wird 2024 - Jahresausblick des IMK

Kontakt:

Prof. Dr. Sebastian Dullien
Wissenschaftlicher Direktor IMK

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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